NEUROLOGIE MIT HERZ
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Was ist das Chronische Erschöpfungssyndrom? Das Chronische Erschöpfungssyndrom, auch Myalgische Enzephalomyelitis genannt, ist eine komplexe und langanhaltende Erkrankung, bei der Körper und Nervensystem ihre normale Energie- und Belastungssteuerung verlieren. Die Betroffenen leiden unter einer tiefen, körperlichen und geistigen Erschöpfung, die sich durch Ruhe oder Schlaf nicht bessert. Hinzu kommt eine besondere Form der Belastungsintoleranz, die man postexertionelle Malaise nennt. Schon kleine körperliche oder geistige Anstrengungen können zu einer deutlichen Verschlechterung aller Symptome führen, die oft erst nach Stunden auftritt und Tage oder sogar Wochen anhalten kann.
Die Erkrankung betrifft verschiedene Körpersysteme gleichzeitig – das Immunsystem, den Hormonhaushalt, das autonome Nervensystem und den Energiestoffwechsel. Deshalb wird CFS/ME heute als Multisystemerkrankung verstanden. Viele Patientinnen und Patienten erleben, dass die Erkrankung ihr Leben grundlegend verändert: Dinge, die früher selbstverständlich waren, wie Arbeiten, Sport treiben oder soziale Kontakte pflegen, werden oft zur Herausforderung.

Wie häufig ist die Erkrankung? CFS/ME ist häufiger, als lange angenommen wurde. In Deutschland sind schätzungsweise zwischen 170 000 und 330 000 Menschen betroffen, wahrscheinlich sogar mehr, da viele Fälle nicht erkannt werden. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer, und am häufigsten tritt die Erkrankung zwischen dem zwanzigsten und fünfzigsten Lebensjahr auf. Obwohl die Zahl der Betroffenen über der Grenze für seltene Erkrankungen liegt, wird CFS/ME im Gesundheitssystem oft wie eine seltene Krankheit behandelt, weil es an spezialisierten Behandlungsstellen, klaren Diagnoseverfahren und ausreichender ärztlicher Erfahrung mangelt.

Wie äußert sich CFS/ME im Alltag? Die Symptome sind vielfältig und können sich täglich verändern. Am stärksten belastend ist die dauerhafte Erschöpfung, die nicht durch Erholung verschwindet. Nach jeder Anstrengung kann eine ausgeprägte Verschlechterung auftreten, die sich mit Schmerzen, grippeähnlichem Gefühl, Schwindel, Konzentrationsstörungen und Schlafproblemen äußert. Viele Betroffene berichten über einen „Brain Fog“, also ein Gefühl geistiger Benommenheit, das das Denken, Erinnern und Sprechen erschwert.
Schlaf ist oft nicht erholsam, der Kreislauf instabil, und schon langes Stehen kann Schwindel oder Herzklopfen auslösen. Hinzu kommen häufig Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Magen-Darm-Beschwerden und eine allgemeine Reizüberempfindlichkeit. Manche Menschen können ihren Alltag noch teilweise bewältigen, andere sind so stark eingeschränkt, dass sie kaum das Haus verlassen können oder auf Pflege angewiesen sind.

Was weiß man über die Ursachen? Die genauen Ursachen von CFS/ME sind noch nicht abschließend geklärt, aber die Forschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Häufig beginnt die Erkrankung nach einer Infektion, etwa durch das Epstein-Barr-Virus oder andere Viren. Es wird vermutet, dass das Immunsystem danach in einem gestörten Aktivierungszustand verharrt. Dabei entstehen chronisch entzündliche Veränderungen, die das Nervensystem und den Energiestoffwechsel beeinflussen.
Viele Hinweise deuten auf eine Fehlregulation der sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse hin, die für die Stressantwort des Körpers verantwortlich ist. Auch die Funktion der Mitochondrien, der „Kraftwerke“ der Zellen, scheint beeinträchtigt zu sein. Dadurch wird weniger Energie bereitgestellt, und jede Belastung führt zu einem Energieabfall. CFS/ME ist damit keine psychosomatische Störung, sondern eine körperliche Erkrankung mit messbaren Veränderungen in Immun- und Stoffwechselprozessen.

Wie wird die Diagnose gestellt? Die Diagnose stützt sich auf eine ausführliche Anamnese, das typische Beschwerdebild und den Ausschluss anderer Erkrankungen. Eine zentrale Voraussetzung ist, dass die Erschöpfung mindestens sechs Monate anhält und mit deutlicher Einschränkung der Alltagsaktivität verbunden ist. In unserer neurologischen Praxis in Willich achten wir besonders auf die postexertionelle Malaise, die das Krankheitsbild von anderen Ursachen der Müdigkeit unterscheidet. 
Zur Diagnose gehören auch Laboruntersuchungen, um andere Erkrankungen wie Schilddrüsenstörungen, Anämien oder chronische Infektionen auszuschließen. Es gibt bisher keinen spezifischen Bluttest oder Biomarker. Die Diagnose ist daher klinisch, erfordert Erfahrung und Zeit. Für viele Betroffene ist sie dennoch ein wichtiger Schritt, weil sie die Beschwerden erstmals einordnet und Missverständnisse beendet.

Wie verläuft die Erkrankung? CFS/ME verläuft meist chronisch und in Phasen. Viele Betroffene erleben Zeiten relativer Stabilität, gefolgt von Rückfällen, die durch Überlastung, Stress oder Infekte ausgelöst werden können. Die Intensität der Symptome kann stark schwanken. Manche Menschen erreichen eine partielle Besserung und können ihren Alltag in angepasstem Rahmen gestalten, andere bleiben über Jahre stark eingeschränkt.
Ein zentraler Aspekt des Verlaufs ist das Verständnis, dass Überanstrengung den Zustand verschlechtert. Der Körper reagiert auf Überforderung mit einem deutlichen Energieeinbruch, der Tage oder Wochen anhalten kann. Wer diese Dynamik erkennt und lernt, innerhalb der eigenen Energiegrenzen zu leben, kann die Krankheit oft stabilisieren und die Rückfallhäufigkeit verringern.

Wie wird CFS/ME behandelt? Eine ursächliche Heilung ist bisher nicht möglich, doch die Symptome können deutlich gelindert werden. Der wichtigste Therapieansatz ist das sogenannte Pacing, eine Methode zur individuellen Energieplanung. Dabei lernen Betroffene, ihre Aktivitäten so zu dosieren, dass sie sich weder über- noch unterfordern. Ziel ist es, den Energiehaushalt zu stabilisieren und Rückfälle zu vermeiden. Kleine Schritte, regelmäßige Pausen und die Beobachtung der eigenen Reaktionen sind dabei entscheidend. Körperliche Aktivität sollte nur sehr vorsichtig und individuell angepasst erfolgen. Intensive Trainingsprogramme, wie sie früher empfohlen wurden, gelten heute als kontraindiziert, weil sie häufig eine Verschlechterung hervorrufen. Psychotherapeutische Begleitung kann hilfreich sein, um mit den Folgen der Erkrankung umzugehen, insbesondere mit den Gefühlen von Kontrollverlust, Isolation oder Angst. Wichtig ist, dass die Therapie nicht auf Aktivierung, sondern auf Bewältigung und Akzeptanz ausgerichtet ist. Medikamente werden zur Linderung einzelner Symptome eingesetzt, etwa zur Verbesserung des Schlafs oder zur Schmerzkontrolle. Immunstimulierende oder antivirale Medikamente zeigen bisher keine gesicherte Wirksamkeit. Unterstützend können Entspannungsverfahren, Atemtherapie und eine geregelte Tagesstruktur hilfreich sein.

Was ist mit Off-Label- und experimentellen Therapien? Weil es noch keine zugelassenen ME/CFS-Medikamente gibt, werden manche Mittel außerhalb ihrer eigentlichen Zulassung eingesetzt. Dazu gehören niedrig dosierte Antidepressiva zur Schmerz- und Schlaflinderung, Antikonvulsiva bei nervenbedingten Schmerzen oder Stimulanzien in ausgewählten Situationen bei schwerer Tagesschläfrigkeit und Denkverlangsamung. Auch Immuntherapien, antivirale Medikamente oder Stoffe zur Unterstützung der Zellenergie werden erforscht. Die Datenlage ist unterschiedlich und teils begrenzt. Solche Behandlungen sollten immer individuell, vorsichtig und ärztlich überwacht erfolgen, damit Nutzen und Risiken sorgfältig abgewogen werden können.

Können Naturheilkunde und Komplementärmedizin unterstützen? Viele Betroffene wünschen sich sanfte Verfahren, um das Befinden zu stabilisieren. Pflanzliche Präparate wie Ashwagandha, Rhodiola oder Ginseng werden als „adaptogen“ beschrieben und können die Stressresistenz subjektiv verbessern; entzündungshemmende Pflanzenstoffe wie Curcumin oder Ingwer werden ebenfalls genutzt. Mikronährstoffe wie Magnesium, Vitamin D, Coenzym Q10 oder Omega-3-Fettsäuren unterstützen grundlegende Körperfunktionen; ob eine Ergänzung sinnvoll ist, sollte anhand von Beschwerden und, wenn möglich, Laborwerten entschieden werden. Akupunktur, sanfte Massagen, Achtsamkeit, Meditation, Yoga oder Tai Chi können Schmerzen lindern, die Entspannung fördern und das autonome Nervensystem beruhigen – wichtig ist eine sehr behutsame Dosierung, damit keine Überlastung entsteht. Ernährungsmedizinische Ansätze mit überwiegend frischen, entzündungsarmen Lebensmitteln, wenig Zucker und wenig stark verarbeiteten Produkten sind einen Versuch wert; bei Verdacht auf Unverträglichkeiten kann eine zeitweilige Eliminationsdiät unter fachlicher Begleitung sinnvoll sein. Für viele dieser Verfahren ist die Studienlage noch nicht eindeutig. Sie können ergänzen, sollten aber die medizinische Basisbehandlung nicht ersetzen. Sprechen Sie Einnahmen und Anwendungen immer mit Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt ab, um Wechselwirkungen und unnötige Ausgaben zu vermeiden.

Wie sehen die Nachsorge und Vorbeugung aus? Die Nachsorge dient vor allem der Stabilisierung. Regelmäßige ärztliche Gespräche, eine klare Tagesstruktur und die frühzeitige Anpassung der Belastung an den Krankheitsverlauf sind entscheidend. Schlafhygiene, geregelte Ernährung, ausreichende Flüssigkeitszufuhr und ein ruhiger, strukturierter Tagesrhythmus helfen, den Körper zu entlasten. Wichtig ist, sich selbst realistische Ziele zu setzen und Fortschritte nicht an Leistungsfähigkeit, sondern an Lebensqualität zu messen. Zur Vorbeugung gehören Stressvermeidung, ein bewusster Umgang mit Energie und das frühzeitige Erkennen von Überlastungssymptomen. Infekte sollten konsequent auskuriert werden. Auch soziale Unterstützung, Verständnis im Umfeld und ein validierender ärztlicher Umgang tragen wesentlich zur Stabilisierung bei.

Wie ist die Prognose? CFS/ME verläuft individuell sehr unterschiedlich. Viele Betroffene erreichen nach einer Phase der Instabilität ein dauerhaftes Gleichgewicht mit angepasster Aktivität. Eine vollständige Heilung ist selten, doch eine deutliche Besserung ist möglich. Entscheidend sind eine frühe Diagnose, ein angepasstes Energiemanagement und die Akzeptanz realistischer Grenzen. Der Verlauf kann durch Geduld, Struktur und ärztliche Begleitung positiv beeinflusst werden.

Was gibt Hoffnung für die Zukunft? Die wissenschaftliche Forschung zu CFS/ME hat in den letzten Jahren deutlich an Dynamik gewonnen. Neue Studien untersuchen immunologische Marker, Störungen des Energiestoffwechsels und genetische Zusammenhänge. Ziel ist es, die biologischen Mechanismen der Erkrankung zu verstehen und daraus gezielte Therapien zu entwickeln. Bis dahin bleibt der wichtigste Schritt, die Erkrankung ernst zu nehmen, ihre Dynamik zu verstehen und das Leben innerhalb der eigenen Grenzen zu gestalten.

Was ist das Wichtigste für Betroffene? CFS/ME ist eine reale, körperliche Erkrankung. Sie verlangt Geduld, Verständnis und eine konsequente Anpassung des Lebensstils. Wer die eigenen Grenzen respektiert und auf Stabilität statt auf Leistung setzt, kann wieder Sicherheit und Lebensqualität gewinnen. Der Weg zur Besserung ist langsam, aber möglich – und jedes Zeichen von Stabilität ist ein Erfolg.