Wenn eine Seite der Welt nicht mehr wahrgenommen wird.
Der Neglect ist eine Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörung, bei der Betroffene eine Körper- oder Raumseite nicht oder nur eingeschränkt beachten, ohne dass eine primäre Sinnesstörung vorliegt. Am häufigsten tritt ein linksseitiger Neglect nach einer Schädigung der rechten Gehirnhälfte auf, etwa infolge eines Schlaganfalls. Die Störung betrifft nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, Fühlen, Denken und Handeln.
1. Typische Symptome: Patient:innen mit Neglect wirken, als sei eine Seite ihrer Umwelt "verschwunden": Sie essen nur von einer Tellerhälfte, stößt sich auf einer Seite häufig an oder rasiert nur eine Gesichtshälfte. Schrift wird zur Seite hin ausgerichtet, und beim Vorlesen werden Wörter auf der betroffenen Seite ausgelassen. Oft fehlt den Betroffenen die Krankheitseinsicht (Anosognosie), was den Alltag weiter erschwert.
2. Alltagserleben: Im Alltag ist der Neglect mit erheblichen Einschränkungen verbunden: Stolpern über Hindernisse, Unfälle im Straßenverkehr oder Konflikte im zwischenmenschlichen Kontakt können auftreten, weil z. B. Personen auf der betroffenen Seite ignoriert werden. Viele Betroffene wirken distanziert oder abwesend, was zu Missverständnissen führen kann. Auch Lesen, Schreiben und jede Form der Orientierung sind beeinträchtigt.
4. Unsere Herangehensweise: Wir erfassen die Störung über gezielte Tests wie Linienhalbierung, Durchstreichaufgaben oder Zeichentests. Ergänzt wird die Diagnostik durch eine Bildgebung (MRT), um das betroffene Hirnareal zu lokalisieren. In der Therapie arbeiten wir eng mit Ergotherapie und Neuropsychologie zusammen, um gezielte Reizlenkung, kompensatorische Strategien und Alltagsübungen zu vermitteln. Auch die Einbindung von Angehörigen ist ein zentraler Bestandteil unseres Konzepts.
5. Wann sollte man zum Neurologen gehen: Bei auffälliger Vernachlässigung einer Raum- oder Körperseite, sollte schnellstmöglich eine neurologische Untersuchung erfolgen. Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend für eine erfolgreiche Rehabilitationsplanung und für mehr Sicherheit im Alltag.
6. Abgrenzung zu psychiatrischen Erkrankungen: Ein Neglect wird häufig fälschlich mit mangelnder Motivation, Teilnahmslosigkeit oder depressiver Verstimmung verwechselt – besonders wenn die Betroffenen nicht auf Reize reagieren oder Aufgaben scheinbar ignorieren. Anders als bei einer Depression fehlt beim Neglect jedoch nicht der Antrieb, sondern die bewusste Wahrnehmung einer Raum- oder Körperhälfte. Die genaue neuropsychologische Diagnostik ist entscheidend, um psychiatrische Ursachen wie Depression, Apathie oder dissoziative Störungen von einem echten Neglect zu unterscheiden. Wir arbeiten hier eng mit Psychiatrie und Neuropsychologie zusammen.